Sonja Fröse

Fachautorin für Pflege

Ein Plädoyer für mehr Rollstuhlspaziergänge

Ein Plädoyer für mehr Rollstuhlspaziergänge

So, über die verschmutzten Gehsteige könnte ich jetzt jammern und lamentieren, aber es ist halt typisch für einige Bezirke in Berlin. Und die Stadt spüren (durch die Erschütterung des holperigen Straßenpflasters) und riechen hier im Beispiel der eingefahrenen Hundeexkremente gehört eben dazu. Vielmehr zeigt es mir, dass ich scheinbar nicht richtig aufgepasst habe, wo wir so lang fahren.

Qualitytime am und im Rollstuhl

Seit dem Pflegepraktikum vor meiner Ausbildung zur Krankenschwester finde ich Rollstuhlspaziergänge eine wichtige und völlig unterschätzte Tätigkeit. Noch heute denke ich völlig zufrieden an die Zeit, in der ich dem Stationsgewusel oder den diversen Klingeln (sei es Telefon, Patientenrufen oder den Piepsgeräuschen von irgendwelchen Geräten) entfliehen konnte. Das Wort Qualitytime kannte ich damals noch nicht, aber das Gefühl lernte ich kennen.

Ein Rollstuhlspaziergang tut dem Pflege- und Betreuungspersonal mindestens genauso gut, wie der Person, die im Rollstuhl sitzt oder liegt – das wird leider viel zu häufig vergessen. Eine Einzelbetreuung während des Spaziergangs im Garten oder im Kiez öffnet die Augen für kleine und unerwartete Begegnungen: Ein Kind, das fragt, weshalb jemand im Rollstuhl sitzt oder die letzte Rosenblüte an einem sonst kahlen Busch zu sehen.

Übrigens kommen auch pflegende Angehörige häufig nicht in den Genuss, in Ruhe spazieren zu gehen. Spaziergänge sind auf vielfältige Weise gesund, sei es die Bewegung, sei es die frische Luft, sei es das mentale Abschalten, wenn man einfach einen Schritt vor den anderen setzt.

Mit den richtigen Hilfsmitteln lassen sich auch längere Strecken einfach bewältigen. Das kann eine Schiebehilfe sein oder höher angebrachte Schiebegriffe. Sitzkissen, Kopfstützen, verstellbare Fußstützen – wenn der Standardrollstuhl nicht ausreicht, dann braucht es eben entsprechende Anpassungen. Die Begegnungen während der Spaziergänge mit Hundebesitzern, Kindern und anderen Personen bereichern den Alltag und das soziale Leben. Dazu später mehr.

Mangelerscheinungen vorbeugen

Viele Menschen, die überwiegend oder vollständig bettlägerig sind, leiden unter einem Mangel an Vitamin-D[1]. Die Haut ist häufig unnatürlich blass. Es kann zu Stimmungsveränderungen wie Depression und Aggression, zu Venen- und Immunschwäche, zu Haarausfall und Osteoporose kommen. Licht tanken ist das Schlagwort. Dabei muss nicht die Sonne scheinen, sondern das Tageslicht ist ausreichend.

Sonnenlicht beeinflusst die innere Uhr. Durch Sonnenlicht wird die Serotoninausschüttung angeregt[2], man fühlt sich aktiver, wacher und glücklicher!

Mobilisation hoch zwei

In der Pflegeplanung heißt es häufig so schön „Mobilisation in den Rollstuhl“ und dann blieben die Menschen allerdings in dem Rollstuhl auf dem Wohnbereich, in der Wohngemeinschaft oder gar in ihrem Zimmer. Die eigentliche Mobilisation beginnt ja erst dann, wenn man sich bewegt. Innerhalb des Rollstuhls sind viele doch wieder immobil.

Deshalb soll der Mensch im Rollstuhl dann auch fortbewegt werden. In den Garten zum Beispiel, egal zu welcher Jahreszeit. Es gibt viel zu sehen und alles ist sicherlich interessanter sein als die bekannten vier Wände des eigenen Zimmers.

Gesellschaftliche Teilhabe  

Wie wäre es mit einer Erfrischung in einem Straßencafé?  Die gewonnene Mobilität sollte gut genutzt werden. Umso häufiger Menschen  im Rollstuhl und deren Begleitpersonen vor einem Café mit Stufen stehen, desto eher werden Rampen angeschafft und wir tragen alle einen Beitrag dazu bei für mehr Barrierefreiheit und Inklusion. Das Gleiche gilt für abgesenkte Bordsteinkanten, die leider häufiger zugeparkt werden, weil die Notwendigkeit manchen gar nicht klar ist. Jemanden im Rollstuhl zu sehen sollte keine Seltenheit sein.

Laden Sie den zwischenmenschlichen Tank auf, indem sie Kontakte zu Nachbarn und Bekannte pflegen, in dem sie durch die Rollstuhlspaziergänge weiterhin sichtbar bleiben.

 
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